FREUNDSCHAFT
11. Juli 2022
SPÄTE ERKENNTNIS
28. September 2022

„Ein gutes Drittel muss weg!“, erklärte mir Winzer Martin, als er mich in die hohe Kunst der Weinlese einführte. Das Thema Rationalisierung ist mir als Unternehmensberaterin zwar nicht fremd. Wie viel der Weinbau mit dem Wirtschaftsleben zu tun hat, wurde mir erst während des Tages bewusst.
An dem verknorzelten Rebstöcken wachsen die Trauben: dicke, pralle, saftige Früchte. Eine schöner als die andere – glaubt man! Näher betrachtet erkenne ich Unterschiede: Es gibt vertrocknete Trauben – die können weg! Winzig-grüne Träubchen – die werden wohl auch nicht mehr reif – weg damit! Dann gibt es geplatzte Trauben – die schneiden wir gleich ab und keltern daraus den ersten, frühen Wein.

Das kennen ich aus dem Unternehmensalltag: auch da gibt es vertrocknete Früchte oder welche, die immernoch „grün hinter den Ohren“ sind – nicht unbedingt die produktivsten Kräfte, die das Unternehmen tragen. Andere wiederum haben schon zuviel Belastung ertragen, sind ausgebrannt. Die Zukunft plant man in den Chefetagen meist ohne sie.

Ein aggressiver Essiggeruch dringt in meine Nase: Alarm! Hier war die Essigfliege! Angelockt durch faules, gegärtes Obst legen sie ihre Eier und Larven in die Trauben. Diese faulen Früchtchen schneide ich sofort ab, sie verderben die Ernte.
Auch in Unternehmen sind die „faulen Eier“ meist von weit her zu riechen. Chefs sind bei ihnen oftmals zögerlich, wissen nicht, wie damit umzugehen. Ich schätze hier die klare Kante des Winzers: „Weg damit! Sie verderben sonst den ganzen Wein!“
Eine Heerschar Ohrenzwicker kommt mir entgegen. Auch diese Traube muss weg, ist bereits mit anderem beschäftigt! Die nächste Rispe voller Grauschimmel. Ich schneide sie beherzt ab: „Stopp!“, ruft der Winzer. „Die brauchen wir! Das ist Edelfäule!“ Edelfäule? Ein Qualitätsmerkmal, sie bringt die Süße in den Wein. Mir leuchtet sofort ein: Ja, so mancher Mitarbeitende wird fürs Unternehmen auch erst dann wertgeschätzt, wenn er an der richtigen Stelle zum Einsatz kommt.

Und was ist mit dem Rest, die „rumhängen“? Der Winzer grinst: „Das sind die Besten, sie bringen die Oechsle!“ Ja, Öchsle gibts in Unternehmen auch genug, und wo was hochprozentig werden soll, da dürfen die „Schaffer“ auch nicht fehlen! Doch kaum ein Chef kümmert sich um seine Öchsle so liebevoll, wie es der Winzer handverlesen tut. Er verschafft jeder einzelnen Traube den Freiraum, den sie braucht, um in der Herbstsonne gesund zu reifen. Hier schneidet er ein Blatt ab, um ihr mehr Licht zu geben. Ein anderes Blatt lässt er stehen, um sie vor Regen und Sonnenbrand zu schützen. Handverlesene Führung mit Blick fürs Wesentliche. „Je mehr Oechsle, desto besser der Wein.“ Möge die alte Winzerweisheit in den Chefetagen Anstoß finden: Prost!

Stefanie Aufleger | STEAUF.de
akzent-Kolumne 2022/10