Ein Thema scheint die Menschen seit langem zu beherrschen, ein nicht greifbares Schreckensgespenst treibt uns um: Digitalisierung! Warum eigentlich? Was steckt hinter dem digitalen Wahnsinn?
In den Wohnzimmern werden die Leinwände immer größer und Jalousien bewegen sich automatisiert auf und ab. Schulbücher werden durch Tablets ersetzt. In den Betrieben übernimmt der Roboter das, woran schon lange keiner mehr Hand anlegen kann oder will. Die Abendgespräche werden am Smartphone geführt. Stundenlang huschen Fingerkuppen über den Touchscreen und verstärken die mehr oder weniger informellen Gedankengänge mit gefühlvoller Emoji-Symbolik. Viele ersparen sich den Abstecher in die Stadt, um noch schnell nach Feierabend ihre Einkäufe zu tätigen. Wozu auch? Hello Fresh, Amazon & Co. liefern per Knopfdruck nach Hause. In anderen Kreisen macht man sich bereits Gedanken darüber, das „wahre Bare“ vollständig abzuschaffen, weil es zwischenzeitlich viel bequemer ist, per App zu bezahlen. Selbst die Pflege von Beziehungen und Freundschaften ist digital einfacher geworden: Facebook erinnert rechtzeitig, wenn ein „Freund“ Geburtstag hat und sendet auf Wunsch „persönliche“ Glückwünsche – voll automatisch, super praktisch!
Warum gibt es überhaupt noch Widerstände gegen Digitalisierung? Eine Frage nicht nur von den Jungen, den sogenannten Digital Natives. Das sind die Menschen, die – überspitzt formuliert – bereits mit dem Smartphone in der Hand das Licht der Welt erblickten. Sie sind in der digitalen Welt groß geworden und fragen heute ihre Eltern und Großeltern: „Wie habt ihr euch früher verabredet, wenn es noch gar kein WhatsApp gab?“ Die Antwort trifft auf Ungläubigkeit: „Wir waren zum verabredeten Zeitpunkt einfach da!“
Genauso ungläubig schielen die analogen „Dinos“ in Richtung der Youngsters, wenn sie mit einem Finger ihre Welt aus den Angeln heben, Verabredungen im Gruppenchat organisieren, Präsentationen „anytime and anywhere“ erstellen oder eine App downloaden, mit der sie Aufgaben schneller und bequemer bearbeiten können als mit den Rechnern, die ihnen ihr Arbeitgeber dafür bereit stellt.
Jeder technische Fortschritt sorgte in der Geschichte der Menschheit für Wirbel. Denken wir zurück an die Industrialisierung, die ersten Arbeiter am Fließband. Erinnern wir uns an das Märchen vom „papierlosen Büro“, das bei der Einführung des Personal Computers häufig erzählt wurde, an den Walkman, das erste Smartphone, etc. Wie viele Szenarien prognostizierten die Verrohung von Sitten, den Verlust an Menschlichkeit, den Untergang des Volkes von Dichtern und Denkern?
Und was ist passiert? Nun ja, tatsächlich forderte die Technik ihre Opfer – das ist nicht von der Hand zu weisen. Doch brachte sie auch sehr viel Erleichterung mit sich und setzte neue Potentiale frei. Auch das ist eine Tatsache.
Vielleicht ist es derzeit genau diese Ungewissheit, wohin der nächste Schritt ins digitale Zeitalter führen wird. Werden wir zukünftig alle eine VR-Brille tragen und uns mit künstlich intelligenten „Freunden“ zum Spielen treffen? Ist die virtuelle Welt die neue Droge, die uns stimuliert und leckere Serotonin-Cocktails serviert? Wie bleiben wir Menschen in Kontakt, ohne uns zu verlieren – im echten Leben, ohne Brille, alltagstauglich und emphatisch genug für die Bedürfnisse unserer Mitmenschen?
Unsere Welt scheint sich derzeit in zwei Lager zu teilen: Die Jungen und die Alten, die Digitalen und die Analogen. Am Trendthema „Digitalisierung“ wird die Spaltung der Gesellschaft sichtbar und drückt sich in nahezu allen Lebensbereichen aus, u.a. als Ablehnung von Veränderungen, in Unverständnis für andere Lebens- und Arbeitsweisen, als Ignoranz von Wissen und Erfahrung, in Missachtung von Tradition und Werten. Sie zeigt sich in Vorwürfen, Kritik und Klimastreiks, in Langeweile und Null-Bock-Stimmung, in Machtstreben und Kampfgebaren. Kurzum: Der technische Wandel macht vielen Menschen Angst. Jung und Alt haben Angst vor dem, was kommen könnte und noch nicht ganz (be-)greifbar ist.
Es gilt zu unterscheiden: Der technische Fortschritt ruft bei machen zwar Zukunftsängste wach, Digitalisierung ist jedoch nicht der Ursprung dieser Angst. Im Grunde zeigt die Gesellschaft im Umgang mit dem technischen Wandel ein natürliches, menschliches Verhalten. Die Gesellschaft steckt in der Krise.
In unserer Kultur wird Krise häufig negativ bewertet. Viele wollen Krisen vermeiden, obwohl sie für natürliches Wachstum von unschätzbarem Wert sind. Man könnte auch so sagen: Ohne Krise kein Wachstum!
Im Wesentlichen sind Krisen nur Botschafter für Veränderungen. Der griechische Ursprung des Wortes „Krise“ lautet „crisis“ und bedeutet: „Wendepunkt.“ In der Natur zeigt sich im Detail, dass Krisen zu jedem Wachstumsprozess dazu gehören. Immer geht es darum, Altes loszulassen, damit Neues Platz hat. Beispielsweise bei der Geburt eines Menschen: Unter Schmerzen muss die Mutter ihr Kind loslassen, damit es geboren werden kann. Ein echter Krisenmoment!
Dennoch gehen Menschen mit Krisen unterschiedlich um. Die einen nutzen den Wandel als Chance, springen voller Elan ins Neue. Andere hingegen sind wesentlich vorsichtiger. Sie tun sich schwerer damit, lassen nur schwer los und zu. Dies hängt von kulturellen und sozialen Prägungen genauso ab wie von der eigenen Persönlichkeitsstruktur. Eines ist jedoch sicher: Ob jemand das Risiko sucht oder eher Sicherheit braucht, ist altersunabhängig!
Im Herbst 2019 begegneten sich zwei Generationen von Zukunftsmachern bei der Innovationskonferenz der Wirtschaftsregion Südwest im Dialog. Mit Blick auf die gemeinsame Zukunft benannten sie ihre jeweiligen Sorgen und Bedürfnisse und schafften somit mehr Verständnis füreinander.
So gestanden beispielsweise die Älteren, sich davor zu fürchten, „abgehängt“ zu werden. „Wir sind nicht so schnell! Diese ganze „App-Welt“ überfordert mich“, verrät der Inhaber eines mittelständischen Betriebs im Schwarzwald. Ihm und vielen anderen seiner Generation fehlt Wissen und Erfahrung im Umgang mit den technischen Neuerungen. Ein Vertreter der Digital Natives hakte nach: „Dann fragt uns doch! Warum kommt ihr nicht auf uns zu?“ Die Antwort darauf brachte zutage, worum es wirklich geht: „Wir haben Angst davor, als „doof“ abgestempelt zu werden.“
Ein junger, aufstrebender Karrierist von der Alb sucht nach Leuchttürmen: „Mir fehlen die Vorbilder! Wie habt ihr das früher gemacht? Wie gelingt es euch, die richtigen Entscheidungen zu treffen, um zum Beispiel Familie und Beruf miteinander zu vereinen?“ Hinter dieser Frage steckt der Wunsch nach Orientierung, nach Perspektive und Rat. Keine App kann dem jungen Mann dabei weiterhelfen, es ist die Weisheit der Alten gefragt. Diese wiederum verstehen ihn nicht und fragen zurück: „Wo ist euer Problem? Ihr habt heute so viel mehr Möglichkeiten als wir damals.“ Ein Generationskollege unterstützt den jungen Schwaben: „Das genau ist das Problem. Die große Auswahl an Möglichkeiten bringt auch sehr viel Unsicherheit mit sich. Ich kenne keinen Schulkameraden, der immer noch beim ersten Arbeitgeber beschäftigt ist. Wie sollen wir uns eine Zukunft aufbauen, wenn ich nicht weiß, ob mein Arbeitgeber mich morgen ins Ausland schickt?“
Der Grad der Krisenstimmung, welche die digitale Wende entfacht, zeigt an, dass sich die Menschheit vor einem großen Entwicklungsschritt befinden muss. Die anstehenden Herausforderungen können nur gemeinsam gelöst werden, wenn sich die Erfahrung der Alten mit dem technischen Know-How der Jungen vereint. Wenn sich die Gelassenheit der Erfahrenen mit der Neugier der jungen Forscher paart. Wenn beide Seiten verstehen, dass sie am selben Ziel arbeiten. Ein Weg in die Zukunft wird sich erst dann bahnen, wenn alle ihre Potentiale vom jeweiligen Standpunkt aus investieren und bereit sind, den nächsten Schritt zu gehen.
Schubladendenken und gegenseitige Vorwürfe aus den einzelnen Lagern werden unsere Gesellschaft nicht darin unterstützen, den technischen Wandel im Alltag zu gestalten. Was es braucht, ist eine lebendige Brücke, die sich auf die Grundpfeiler gemeinsamer Werte wie Sicherheit, Freiheit und Versorgung stützt.
Sie muss von beiden Seiten gebaut werden und beide Seiten miteinander verbinden. Dazu braucht es vor allem eines, und das scheint oft zu fehlen: Vertrauen! Auch da verrät der griechische Ursprung „pistis“, worum es beim Vertrauen im Kern wirklich geht: „Sein Leben in die Hand eines anderen geben“.
Das ist die eigentliche Herausforderung, die Kernaufgabe des digitalen Wandels. Trauen wir uns zu, den richtigen Weg zu finden?
Die Digitalisierung verliert ihr Schreckensgesicht, wenn sich die Menschen darin einig sind, welchen gemeinsamen Weg sie bestreiten wollen. Ein Weg, der für alle gut ist, auf dem niemand verloren geht. Ein Weg, der die Bedürfnisse von Jung und Alt gleichermaßen berücksichtigt und der alle zusammen in der Zukunft ankommen lässt: in einem guten, sicheren und friedlichen Leben.
Autorin: Stefanie Aufleger